Der Angelbaum

Die Geschichte eines außergewöhnlichen Naturdenkmals

Text: Wilfried Otto

Die ersten Aufzeichnungen über die Hahnheimer Ulme – auch Effe oder Rüster genannt – stammen aus dem Jahr 1330. In einer Urkunde des Klosters Eberbach im Rheingau vom 25. Juni 1330 ist nachzulesen, dass damals schon eine Ulme (lateinischer Name: Ulmus Laevis) auf dem Anger, einem Dorf- und Weideplatz oberhalb vom Ort stand. Mit Sicherheit ist dieser Baum wesentlich älter, sonst hätte man ihn nicht so genau beschreiben können. Ursprünglich hat man ihn – wegen seines Standortes „auf dem Anger“ – einfach „Angerbaum“ genannt, woraus dann später „Angelbaum“ wurde. Jedenfalls hat man Ulmen meistens an den Ortsrand in die Nähe einer Pforte gepflanzt, manchmal auch auf oder hinter Festungsmauern, um nicht von herankommenden Landstreichern und feindlichen Truppen gesehen zu werden. Welche Aufgabe die Hahnheimer Ulme hatte – als „Wachturm“, als Zollstation oder als Gerichtsbaum – darüber ist uns nichts überliefert. Es ist auch nicht auszuschließen, dass der „Angerbaum“ – weil er Leben und Schicksal der Einwohner schützen sollte – eine besondere, auf den germanischen Baumkult zurückgehende Verehrung bekam. Auf eine solche Besonderheit weist jedenfalls der Name „Heyerbaum“ (vom mittelhochdeutschen „heien“ = hegen, schützen) für eine bis 1982 in Schornsheim stehende Ulme hin.

Fest steht, dass die Hahnheimer ihren „Angerbaum“ oder „Angilbaum“ (so lautet die mittelalterliche Bezeichnung eines Baumes auf dem Anger), trotz der Verwüstung des Ortes im 30jährigen Krieg und in der napoleonischen Zeit, weiter stehen ließen. Damit konnte sich der Baum mächtig weiterentwickeln.

Rund 500 Jahre nach seiner ersten Erwähnung, d.h. im 19. Jahrhundert, wird der Angelbaum als mächtige Riesenulme mit 7 Metern Umfang und 2,75 Metern Durchmesser wieder urkundlich genannt. Außerdem wird berichtet, dass der Baum bis Anfang des 20. Jahrhunderts durch Abschlagen der Äste immer wieder zurechtgestutzt wurde. Diese Art der „Baumpflege“, die vielerorts der Gewinnung von Brennholz diente, mag auch der Grund dafür gewesen sein, dass am 30. November 1903 das Großherzogliche Kreisamt in Oppenheim den Hahnheimer Angelbaum, wohl wegen seines prächtigen Erscheinungsbildes und seines hohen Alters, unter gesetzlichen Schutz stellte. Außerdem wurde verfügt, dass „… Arbeiten, die dieses geschützte Naturdenkmal zu gefährden oder zu verunstalten drohen nur nach vorheriger Genehmigung durch dieses Amt vorgenommen werden dürfen.“

Welche Ausmaße dieser Baum um 1922 hatte, zeigt ein Bild von der Neugasse aus. Von dort aus gesehen nahm der Angelbaum nicht nur die ganze Straße ein; die Straße selbst musste sogar um ihn herum gebaut werden. Genauso eindrucksvoll war der Blick auf den Angelbaum entlang der Oberen Hauptstraße, d.h. in Richtung Undenheim. Mit seinen Ästen und Zweigen reichte der Baum bis zu den gegenüber liegenden Häusern und mit seiner Krone, sie hatte inzwischen rund 30 Meter erreicht, überragte er selbst die Turmspitze der evangelischen Kirche.

Wegen seiner hervortretenden Stellung oberhalb vom Ort war der Angelbaum über Jahrhunderte Orientierungshilfe für Wanderer und Reisende auf dem Weg von Nierstein über Selzen, Hahnheim, Undenheim nach Bad Kreuznach und zurück. Ein steinerner Steg von 1611 über die Selz, noch heute ist ein Teil davon am westlichen Ortsrand von Selzen zu sehen, weist auf diesen früheren Verbindungsweg hin.

Obwohl die Spitze des Angelbaumes um etwa 1900 zum ersten Mal abgebrochen war, blieb der Baum bis Anfang der 40er Jahre gesund und erfreute die Einwohner durch sein stattliches Aussehen und durch den Gesang der dort lebenden Vögel. Die ersten Erhaltungsmaßnahmen erfolgten 1944/45, als deutsche Pioniere auf die abgebrochene Stammspitze eine Blechhaube setzten, um das Eindringen von Regenwasser in den Baum zu verhindern. Diese Abdeckung wurde bei

der Beschießung von Hahnheim im März 1945, bei der auch die evangelische Kirche dicht daneben getroffen wurde, stark beschädigt. Daraufhin wurde eine neue Abdeckung auf die Stammspitze gesetzt und Anfang der 50er Jahre zusätzlich ein Rad als Nisthilfe für den Storch angebracht, der aber seitdem den Angelbaum gemieden hat.

Ende des 2. Weltkrieges wurde der Angelbaum wieder zum Schicksalsbaum der Hahnheimer Einwohner. Als nämlich ein hiesiger Bürger, Herr Senon Bogacz, vor den heranrückenden Amerikanern die weiße Fahne auf dem Angelbaum gehisst hatte, befahl ein SS-Offizier das sofortige Entfernen der Fahne und erklärte gleichzeitig Hahnheim zur „Festung“. Daraufhin wurde der Ort – obwohl strategisch absolut unsinnig – von 17 Geschützen umstellt und zwei Tage lang von deutschen Truppen verteidigt. Die Folge davon war die teilweise Zerstörung von Hahnheim durch die Amerikaner, wobei auch der Angelbaum beschädigt wurde. Jedenfalls zeigte sich ab dieser Zeit kein Laub mehr in der Baumspitze. Wie sich später herausstellte, hatte das von oben und durch abgestorbene Astlöcher eingedrungene Regenwasser den Baum in seinem Kern so stark beschädigt, dass 1972 eine grundlegende Sanierung notwendig wurde. Ob schon 1914 eine Sanierung stattgefunden hat, bei der der zum Teil hohle Kern des Baumes ausgemauert bzw. mit Beton ausgegossen wurde, ist nicht belegt. Der Hauptgrund für die Sanierung, die 1972 stattfand, war jedoch, dass Mitte der 60er Jahre der Ulmen-Splintkäfer alle Ulmen in Rheinhessen befiel und ein mit ihm eingeschleppter Pilz (Ceratocystis Ulmi) auch den hiesigen Angelbaum so stark geschädigt hat, dass er nach und nach abstarb. Leider gab es gegen diesen Käfer- und Pilzbefall kein wirksames Mittel, sodass man sich damit begnügen musste, den zum Teil hohlen Baum vor dem Umfallen zu sichern. Dazu wurde der Baum innen mit Beton ausgegossen und alle „offenen Wunden“ abgedichtet. Als auch das nicht half, musste der Angelbaum 1978 von knapp 30 Metern bis auf etwa 10 Meter abgetragen und alle seitlichen Äste abgeschnitten werden. Ein an Neujahr 1981 im oberen Bereich ausgebrochenes Feuer, vermutlich verursacht durch einen Feuerwerkskörper, sorgte für eine weitere Zerstörung des Baumes und ein allmähliches Abfaulen der Baumhülle oberhalb der Wurzeln. Dazu kamen noch weitere nicht sichtbare Schäden am Baum.

Am 14. Oktober 1983 hat die Untere Landespflegebehörde bei der Kreisverwaltung Mainz-Bingen diesen einst so stolzen Baum als „nicht mehr erhaltenswertes Naturdenkmal“ eingestuft und ihn aus der Liste der Naturdenkmäler gestrichen.

Zwei von der Gemeinde beauftragte Gutachter und ein Baumexperte der Kreisverwaltung bestätigten 1998/99 unabhängig voneinander, dass für den ca. 10 Meter hohen und knapp 3 Meter dicken Stamm des Angelbaumes keine Chance besteht, ihn auf Dauer zu erhalten. Zu groß waren die Schäden und es bestand die Gefahr, dass – wie schon früher an der Nordseite des Stammes – irgendwann wieder ein Stück von dem innen hohlen Stamm herausbrechen und herunterfallen könnte. Für dieses Risiko und die damit verbundenen Schäden wollte niemand die Verantwortung übernehmen. Auch war nicht sicher, ob der Baum in sich noch stabil war, d.h. ob der Betonkern im Baum bis in den Wurzelbereich langte und damit ein Umfallen des Baumes verhindert werden konnte. Mit all diesen Problemen musste sich der Bauausschuss des Gemeinderates in mehreren Sitzungen beschäftigen. Dabei gab es auch Überlegungen, den oberen Teil des Baumes noch zu erhalten und ihn als hölzernes Denkmal an einem geeigneten Platz im Ort wieder aufzustellen. Diese Idee wurde aber wieder verworfen nachdem klar wurde, wie stark auch die Baumrinde geschädigt war. Schließlich hat der Gemeinderat dann im März 1999 seine Zustimmung zum Fällen des Angelbaumes gegeben. Diese Entscheidung fiel keinem Ratsmitglied leicht, denn zu viele Erinnerungen der Hahnheimer waren und sind noch immer mit dem Angelbaum verbunden. Außerdem war jedem bewusst, dass damit ein Stück Hahnheimer Geschichte zu Ende ging.

Als am Freitag, den 13. August 1999, kurz nach 14 Uhr der Bagger anfing, den Baum umzulegen, brach – wie erwartet – ein großes Stück der oberen Holzschicht heraus (siehe Bild 4). Am liegenden Baum, einst das stolze Wahrzeichen von Hahnheim, konnte jeder sehen, wie mächtig dieser Koloss einst gewesen ist und wie viele Jahrhunderte es gedauert hat, bis ein solcher Riese gewachsen ist. Seiner Größe nach zu urteilen hat der Angelbaum etwa 800 Jahre dort gestanden und sich von oben betrachtet, was unten im Dorf vor sich ging. War er also doch der Baum, der Leben und Schicksal seiner Einwohner schützen sollte? Einige Chronisten bestätigen das.

So einen Dorfbaum, einst an der höchsten Stelle im Ort gepflanzt, wird es auch in Zukunft wieder geben, denn der Gemeinderat hat im März 1999 beschlossen, an der selben Stelle spätestens im Jahr 2000 einen neuen Baum zu pflanzen. Nachdem am alten Standort 8 Kubikmeter Beton entfernt und 20 Kubikmeter Erde ausgetauscht worden waren, konnte am 23. Dezember 1999 ein neuer Baum, d.h. eine resistente Ulme (Ulmus resista) der Sorte „Regal“ eingepflanzt werden. Diese Ulme wurde zum „Partnerschaftsbaum“, zur Erinnerung daran, dass am 2. September 1999 eine Partnerschaft zwischen den Gemeinden Váralja in Süd-Ungarn und Hahnheim geschlossen wurde. Und damit der Baum richtig wächst, wurde er bei seiner „Einweihung“ am 1. Januar 2000 mit Váralja-Wasser, einem hochprozentigen Schnaps, begossen. Hoffen wir, dass auch dieser Baum, er ist schon über 7 Meter hoch, wächst und gedeiht, zur Freude von Jung und Alt in Hahnheim und Váralja.

Inzwischen ist der „neue Angelbaum“ weiter gewachsen und mit einem Gedenkstein und einer Tafel versehen worden. Dort ist nachzulesen, dass der neue Baum „Partnerschaftsbaum“ genannt wird. Am Sonntag, den 2. September 2001, also genau 2 Jahre nach der Unterzeichnung der Partnerschaftsurkunde, trafen sich dort über 40 Bürger aus Váralja und zahlreiche Hahnheimer mitsamt ihren Bürgermeistern, um das Symbol ihrer Partnerschaft miteinander einzuweihen. An den Tagen zuvor, d.h. während der Hahnheimer Kerb, hatte man schon kräftig miteinander gefeiert.